Beispiel 3
Ein Wahnsinns-Tag
Der Wecker klingelt mich endgültig aus meinem wohl
verdienten, aber viel zu kurzen Osterurlaub. Ein Blick in den
Spiegel verrät mir Neuigkeiten: Unterschlaf und Unterlust. Na dann,
herzlich Willkommen in Ihrem Bad, bitte betreten Sie jetzt die
Dusche. Schnell den Dienstwagen holen, der soll nach dem
Reifenwechsel wieder mit. Der Smart ist wie immer Ohren betäubend
laut und die Lüftung brüllt mich an. Aber die Sonne scheint und
schenkt mir Zuversicht. Es wird ein schöner Tag – wird es ein
schöner Tag? Wir werden sehen.
Vor dem Büro noch schnell in die Bezirkshandlung. Als Beraterin für
glückliche Kunststoffhaushaltswarenbesitzerinnen und –besitzer
brauche ich noch ein paar Muster. Donnerstag ist meine letzte
Party. Zum Glück sind die meisten noch müde, so dass keine allzu
lauten Unterhaltungen einen Nachhall zur Fahrt bewirken. Ich bin an
der Reihe. Lagerkollegin 1: „Muster? Warte mal.“ Lagerkollegin 2
(von ganz hinten in zarter Lagerstimmenfärbung): „Es gibt keine
Muster mehr. Heute ist Neuvorstellung.“ Lagerkollegin 1: „Ja, heute
ist Neuvorstellung.“ „Ja, ich weiß, das war aber abgesprochen.“
Lagerkollegin 2 (immer noch von hinten): „Du weißt doch, dass heute
Neuvorstellung ist.“ „Ja, ich…“ Lagerkollegin 1: „Dann gibt’s keine
Muster mehr“ „Ja, ich weiß, aber …“ Von hinten fliegen Kartons.
„MIST!“ – offenbar nicht freiwillig, aber jetzt, denn mindestens
einer bekommt einen lautstarken Tritt obendrauf. Lagerkollegin 1:
„Brauchst Du sonst noch was?“ „Sonst? Ja, ich brauche 10
Gästegeschenke.“ „Sind aus.“ Die restlichen Kartons fliegen
hinterher, die Eisentür macht mit. „Aus?“
„Aus.“
Der rüttelige Ohrensmart überwindet alle meine inneren Widerstände
und bringt mich an das Ziel meiner Albträume. Natürlich
funktioniert der Rechner nicht. Mein Kollege wird hektisch – kein
Problem, als die Ruhe in Person kann ich das an Tagen wie diesen
gut abfedern. Netzwerkkabel austauschen, auf geht’s. Die Kollegen
aus den Nachbarbüros treffen nach und nach ein, verschwinden in der
Küche und holen sich erst einmal einen Kaffee. Gefühlt entscheidet
sich jeder für den Becher ganz hinten unten.
Die schwere Eicheneingangstür im Erdgeschoss fällt noch einmal
aufdringlich ins Schloss, dann wird es ruhiger auf dem Flur und ich
kann mich meiner Arbeit widmen. Voller Abscheu sehen der überaus
langweilige Papierstapel und ich uns an. Wir können uns nicht
leiden, glücklicherweise beruht das auf Gegenseitigkeit. Ich wende
die alte List an: Stapel wegarbeiten, dann habe ich gewonnen. Die
Motivation dazu klappt immer phasenweise. Die Tür unten fällt
wieder zu. Es ist ruhig. JUHUUUU!! Das ist mein Tinnitus, froh,
endlich mal wieder Gehör bei mir zu finden und freut sich schon auf
den Wettstreit mit der Rechnerlüftung. Wie die Kinder – ehrlich,
sie wollen einfach nicht verstehen, dass beide so lange
weitermachen, bis der Stecker gezogen wird – dem Rechner oder mir.
Und beides habe ich nicht vor.
Gibt es eigentlich einen Preis für den Mann, der mit seinem Husten
als erstes eine Wand zum Einsturz bringt? „Nein, nein, es geht mir
gut, Sie hätten mich mal letzte Woche hören sollen. Da hatte ich
richtig Husten.“ Nein, danke, wirklich kein Bedarf. Aber ich bringe
noch ein „Sie Armer, wollen Sie einen grünen Tee?“ raus. Ich bin ja
mitfühlend. Er lehnt dankend ab. Unten fällt die Tür ins
Schloss.
Die Telefone in den Nachbarbüros wollen nicht still stehen, ebenso
wenig wie die Kolleginnen, die ihre Pumps über den Holzfußboden
spazieren tragen. Und gern auch mal an meinem Büro vorbei, die
Holztreppe hinunter ins Erdgeschoss. Und wieder hoch natürlich.
Unten fällt die Tür ins Schloss.
12:00 Uhr – Besprechung bei meinem Kollegen. Plötzlich steht eine
Kollegin aus dem Nachbarsbüro hinter mir. „Entschuldigung, ich
wollte Sie nicht erschrecken.“ „Tun Sie nicht, mach ich immer
selbst.“ Fragender Blick. Unten fällt die Tür ins
Schloss.
12:30 Uhr – mein Kollege muss los. Haut die Tür zu, er ist spät
dran. Runter, raus, die Tür fällt ins Schloss. Die Tür geht wieder
auf, er rast die Treppe wieder hoch, stockt, murmelt „was
vergessen“, reißt die Tür auf, haut sie wieder zu, murmelt „jetzt
aber“, springt die Treppe runter, raus, die Tür fällt ins Schloss.
Es ist eine Gabe.
Weiter im Text – Mails lesen. „Hallo! Ich habe gehört, Sie hatten
Urlaub! Ich hoffe, es war schön! Bitte melden Sie sich doch mal!
Hat aber Zeit!“ Warum brüllt die so?
13:00 Uhr – Mittagspause. Im Discounter um die Ecke noch ein paar
Sachen einkaufen. Versteht sich wohl, dass mit sich selbst redenden
Warenverräumern Dosen aus dem Regal fallen. Die beiden niedlichen
Wonneproppen hinter mir kreischen vor Vergnügen. Der adrette junge
Mann in der Kasse vor mir versorgt sich mit seiner Ration
Kräuterschnaps. Gestern Abend würde ich tippen, gabs zum Abendbrot
eher Bier und Zigaretten, weniger frische Luft und erst recht keine
Seife.
Wie nett, der sirenisierte Krankenwagen wartet, bis ich aus dem
Laden trete und gerade mit einer großen Einatmung versuche, den
Typen vor mir aus der Nase zu bekommen. Ist es eine Gabe? Es ist
eine Gabe, höre ich mich.
Ich öffne die Tür und während ich die Treppe hinauf gehe, fällt sie
voller Wucht in ihren Rahmen. Das Herz sackt mir in die Knie, aber
da komme ich gut ran. Zwei Nachbarskolleginnen kommen mir auf der
engen Treppe entgegen, sie amüsieren sich prächtig und haben sich
zur Feier des Tages zum Mittag noch einmal ordentlich eingesprüht
(wie wird das Essen schmecken?). Hinter mir läuft eine weitere
Kollegin. Schwerfällig stapft sie mit ihren hohen Hacken die
Holzstufen hoch. Ich flüchte aufs Klo, wo mir der Geruch von
parfümiertem Toilettenpapier entgegenwabert. Winterduft – eine
eklige Mischung aus Vanille und Kokos. Hoffentlich riecht mein Po
nicht so.
13:30 Uhr – der Salat versucht mich tapfer anzulächeln. Meine
Nerven liegen blank, aber ich weiß genau, esse ich jetzt nicht,
kriege ich auch noch schlechte Laune. Das braucht kein Mensch.
Unten fällt die Tür ins Schloss.
Nach einer Nerven aufreibenden halben Stunde, in der sich die
Nachbarskolleginnen ein Treppenduell geliefert haben, ist jetzt
wieder Ruhe. Bis auf Tinni, der kriegt wieder
Oberwasser.
Ich kann mich wieder dem langweiligsten aller Papierstapel zuwenden
und bin mir über eines klar: Wäre mein Optimismus nicht – ich würde
denken, das ist ein Wahnsinns-Tag. Und er ist noch nicht einmal
halb um.
Aber: Es ist eine Gabe.
Jasmin G.
Meinen herzlichen Dank an die Autorin: Jasmin G., welche
zusagte, den Beitrag hier veröffentlichen zu dürfen. Mir persönlich
ist der Beitrag wichtig. Er zeigt mir, wie sehr Emissionen das
Leben mit Hochsensibilität belangen. Es mag für dieses feine
Wahrnehmen, Sehen und Schreiben eine Gabe sein, es zeigt auch, wie
das Selbe anderen Menschen gar nicht erst ins Bewusstsein dringt,
und es mag zur Energie verzehrenden Tortour werden, für die und
den, der das alles mit- und abbekommt.
Kommentar von JJ:
Doch der wirkliche Schmerz, das was weh tut, ist, dass die
"Anderen", jene, die das gar nicht merken, es auch nicht sehen und
damit nicht verstehen können. Egal, ob es für eine HSP eine grosse
Freude, eine Lust, ein Glück oder ein Leid, ein Schmerz, ein
Nicht-Sehen und damit ein Unverstehen ist ... die "Anderen" kommen
nicht an uns heran, nicht ganz, nicht Ansatzweise - einfach mit
nichts. Es fehlen uns Welten, um von denen ganz gesehen und
verstanden werden zu können. Und dieses Nicht-Gesehen-Werden ist
es, was ohmächtig machen kann. Daher auch die Wichtigkeit dieses
Beitrages - weil wer es wie Jasmin erlebt, sieht und fühlt sich
gleich verstanden - ein empathisches Wohlgefühl der seltenen Art
und mE von grosser Wonne. Danke Jasmin.
Der Kommentar oben ist mein persönliches Wahrnehmen. Beste
Grüsse, J. Jakob